„…betreffend das Tragen von Frauenkleidern durch Männer und umgekehrt“

Auszug aus dem Gutachten mit Unterschriften von Dr. Ernst Burchard und Dr. Magnus Hirschfeld

Der 17. Mai ist der Internationale Tag gegen Homo- und Transphobie. Zu diesem Anlass möchten wir eine Akte vorstellen, die die Tätigkeit des bedeutenden Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868–1935) und das Leben von Gerda von Zobeltitz, Transvestit aus Weißensee, veranschaulicht.

Umgang mit Transvestiten im Kaiserreich

Magnus Hirschfeld prägte den Begriff Transvestit (heute: Crossdresser) und engagierte sich als Gutachter und Wissenschaftler für die Entkriminalisierung der Homosexualität. Vor 90 Jahren, am 6. Mai 1933, zerstörten Nazi-Schläger sein Institut für Sexualwissenschaft in Berlin und beendeten dessen rege Forschungstätigkeit.

Eine im Landeshauptarchiv überlieferte Akte mit der Signatur Rep. 2A Regierung Potsdam I Pol Nr. 3282 enthält eines der Gutachten Hirschfelds und gibt uns Auskunft über einen der ersten Crossdresser, die noch im Kaiserreich dank Hirschfelds Expertise die behördliche Genehmigung zum Tragen von Frauenkleidern erhielten: Gerda von Zobeltitz, Geburtsname Georg. Den Namen Gerda hat sie selbst gewählt. Er wird daher außerhalb von Zitaten hier verwendet.

Das zwölfseitige Gutachten von Magnus Hirschfeld und seinem Kollegen Ernst Burchard vom 21. Juni 1912 sowie zwei Gesuche und einige trockene Behördenschreiben aus den Jahren 1912 bis 1916 geben einen knappen, aber spannenden Einblick in Leben und Arbeit der beiden Protagonisten sowie den Umgang der Behörden mit Crossdressern im frühen 20. Jahrhundert.

Aktendeckel mit dem Titel "Sonder-Akten betreffend das Tragen von Frauenkleidern durch Männer und umgekehrt" von 1912
BLHA, Rep. 2A Regierung Potsdam I Pol Nr. 3282, Aktendeckel mit dem Titel „Sonder-Akten betreffend das Tragen von Frauenkleidern durch Männer und umgekehrt“ von 1912

Hirschfeld: Gutachtertätigkeit und Forschung

Magnus Hirschfeld war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Arzt und Ratgeber für alle, die bei ihm Hilfe suchten. Vehement setzte er sich dafür ein, ihnen ein Leben gemäß ihrer sexuellen Orientierung zu ermöglichen, und kämpfte für die gesellschaftliche Akzeptanz sexueller „Zwischenstufen“. Beides zeigt sich in dem akribischen Gutachten für Gerda von Zobeltitz, das auf längeren Untersuchungen und Beobachtungen beruhte.

Neben der wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse zielt es offenbar auch darauf ab, Gerdas Verhalten als ungefährlich und ganz im Einklang mit ihrer natürlichen Veranlagung und gesunden Entwicklung darzustellen. Dafür bedient es sich auch klischeehafter Vorstellungen von mädchenhaftem Wesen. Positiv hebt es hervor, dass Zobeltitz großes Geschick und echte künstlerische Begabung bei seiner Schneiderei und andern Handarbeiten zeige und er sich in seiner weiblichen Kleidung durch beachtliche Sicherheit und ziemlich ausgeprägten Eigenwillen auszeichne. Aufsehen würde Zobeltitz eher in Männerkleidern als in Frauenkleidern erregen.

Gerda von Zobeltitz: Damenschneiderin und Tänzerin

Gerda von Zobeltitz wurde 1891 in Rixdorf/Neukölln als Georg geboren, arbeitete als Damenschneiderin und lebte in Weißensee. Als Hirschfeld und Burchard 1912 ihr Gutachten erstellten, war von Zobeltitz wegen weiblicher Kleidung bereits in Polizeigewahrsam genommen worden und wandte sich wohl deshalb hilfesuchend an Hirschfeld. In der persönlichen Begründung für das Gesuch um den sogenannten Transvestitenschein ist die Dringlichkeit des Anliegens deutlich: „da mir das Leben unerträglich wäre, wenn ich gezwungen würde, dauernd Männerkleidung zu tragen…“.

BLHA, Rep. 2A Regierung Potsdam I Pol Nr. 3282, Gesuch von G. von Zobeltitz vom 12.11.1912, in Frauentracht gehen zu dürfen

Am 12. November 1912 reichte Zobeltitz das Gutachten beim Polizeipräsidium in Berlin mit dem Gesuch ein, „gütigst die Genehmigung erteilen zu wollen, in Frauentracht zu gehen unter der Voraussetzung, dass ich in derselben kein Aufsehen errege“. Dort hielt man sich mit dem Gesuch nicht lange auf. Es wurde dem Medizinalrat vorgelegt, der für die Prüfung ärztlicher Gutachten zuständig war. Sein Vermerk auf dem Gesuch lautet kurz: „gelesen, einverstanden“. Ein anderer Beamter schrieb „wie in früheren Fällen“ darunter. Zobeltitz profitierte offenbar von der damals guten Zusammenarbeit Hirschfelds mit dem Polizeipräsidium, die sich schon in einzelnen früheren Gesuchen von Transvestiten bewährt hatte.

Im Konzept für den positiven Bescheid des Polizeipräsidiums heißt es dann, dass dem Antragsteller „das Tragen der weiblichen Kleidung an sich nicht untersagt wird“. Es folgt allerdings ein erheblicher Vorbehalt: „Sie machen sich jedoch strafbar, sobald Sie durch Ihr Verhalten in Frauenkleidung irgendwelches öffentliches Aufsehen erregen.“

BLHA, Rep. 2A Regierung Potsdam I Pol Nr. 3282, Konzept des positiven Bescheids, also des „Transvestitenscheins“

Erst jetzt stellte man im Polizeipräsidium fest, dass Zobeltitz, die nur die Adresse des Arztes Hirschfeld in Berlin-Tiergarten angegeben hatte, in Weißensee, damals noch außerhalb Berlins im Kreis Niederbarnim, Regierungsbezirk Potsdam, wohnte. Das gab der Sache administrativ eine neue Wendung:

Zuständigkeitshalber gab das Polizeipräsidium die Entscheidung samt der Akte an die Regierung Potsdam ab. Dort schloss man sich nach Rückfragen beim Landratsamt und bei der Ortspolizeibehörde in Weißensee, die keine Bedenken erhoben, dem Berliner Votum an.

Am 5. März 1913 wurde die erbetene Genehmigung in etwas milderer Formulierung, aber ebenfalls mit Vorbehalt erteilt: „Mit Rücksicht auf den Inhalt des von Ihnen vorgelegten Gutachtens gestatte ich Ihnen widerruflich das Tragen weiblicher Kleidung. Die Genehmigung wird solange erteilt, als Sie durch Ihr Verhalten kein Aufsehen erregen.“

Zeitungsausschnitt/Pressefoto von 1913 mit G. von Zobeltitz in Kleid mit Hut Von Autor/-in unbekannt - https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dib&datum=19130403&seite=4, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=130142986

Berliner Unterhaltungsblätter und auch einige seriöse Zeitungen berichteten damals und auch später wiederholt über den „Fall Zobeltitz“ und machten ihn notorisch. Ihre Berichterstattung war überwiegend wohlwollend, bediente aber immer auch die Sensationslust der Leserschaft. Ein gutes Jahr später sah sich das Amt Weißensee dazu veranlasst, Klage über Zobeltitz zu führen, dessen zunehmend auffällige Kleidung Aufsehen errege und öffentliche Unruhe provoziere. In Potsdam folgte man dem Antrag, die Genehmigung zum Tragen von Frauenkleidern zu entziehen, jedoch nicht und beließ es bei einer Verwarnung.

Intervention der Familie von Zobeltitz

Dass man die Genehmigung Ende 1916 dann doch zurückzog, könnte durch eine Intervention der adeligen Verwandtschaft mitverursacht worden sein. Am 6. Oktober 1916 schrieb Hanns von Zobeltitz als Vorstand des Zobeltitzschen Familienverbandes an die Regierung. Er gab sich in der Sache liberal, drängte aber auf Widerruf der Genehmigung. Georg von Zobeltitz habe kürzlich geheiratet und damit der Genehmigung die Grundlage entzogen.

Sein Hauptproblem waren aber ganz offensichtlich die öffentliche Aufmerksamkeit und die Zeitungsberichterstattung, durch die er den guten Ruf der Familie gefährdet sah. Diesmal gab die Regierung nach und entzog mit Schreiben vom 11. Dezember 1916 die Genehmigung. Damit schließt unsere Akte.

Ende der Zuständigkeit der Regierung Potsdam

Welche unmittelbaren Konsequenzen der Widerruf der Genehmigung hatte und wie Gerda darauf reagierte, ist in der Akte nicht dokumentiert. 1920, mit der Einbeziehung von Weißensee in Groß-Berlin, endete die Zuständigkeit der Regierung Potsdam für den Fall.

Weitere Informationen über ihr Leben finden sich in weit verstreuten Dokumenten oder stammen von Zeitzeugen. Sie gab das Tragen von modischen Frauenkleidern nicht auf, wusste sich in ihrem Umfeld trotz Anfeindungen Respekt zu verschaffen, arbeitete erfolgreich als Schneiderin, war mitunter in der Berliner Subkultur unterwegs und trat auch als Tänzerin und Sängerin auf: ein aktives und selbstbestimmtes Leben. Sie starb 1963 durch einen Autounfall auf dem Kurfürstendamm.

2009 hat Katja Koblitz vom Verein Spinnboden, Lesbenarchiv und Bibliothek, in Berlin eine gründlich recherchierte Studie über Gerda von Zobeltitz veröffentlicht und darin auch das Gutachten Hirschfelds eingehend analysiert. Auf dieser Grundlage empfahl 2015 die Berliner Landesstelle für Gleichstellung – gegen Diskriminierung 2015 die Ehrung von Gerda von Zobeltitz als Namensgeberin für eine passende öffentliche Einrichtung oder einen Park.

Siehe Katja Koblitz: „In ihm hat die Natur das berühmte dritte Geschlecht geschaffen“. Gerda von Zobeltitz, ein Transvestit aus Weißensee. In: Sonntags-Club (Hrsg.): Verzaubert in Nord-Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee, Berlin 2009, S. 58–80,

und den Wikipedia-Artikel mit weiteren Nachweisen: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerda_von_Zobeltitz.

Über Magnus Hirschfeld auf der Website der Hirschfeld-Stiftung

Ein Artikel von Dr. Falko Neininger, Potsdam, 16. Mai 2023