Leseempfehlung: Ein Historiker im Labyrinth des Archivs. Erfahrungen und Erwartungen

Nahaufnahme des Schriftzugs Archiv am Gebäude des BLHA

Vortrag von Michael Wildt zum 19. Brandenburgischen Archivtag in Königs Wusterhausen am 25. April 2016. Veröffentlicht in „Brandenburgische Archive. Berichte und Mitteilungen aus den Archiven des Landes Brandenburg“ 34/2017

Als ich für meine Magisterarbeit zum ersten Mal das Hamburgische Staatsarchiv betrat, fühlte ich mich in eine völlig unbekannte Welt geworfen. Gottlob hatte mir ein Kommilitone, der wusste, dass ich zum Lebensmittelrationierungssystem nach 1945 in der britischen Zone arbeiten wollte, ein paar Aktensignaturen genannt, die ich bestellen sollte – aber wie?

Auf der Suche nach Bestellscheinen stieß ich schließlich auf rosa Streifen, die ich gewissenhaft ausfüllte, um dann von der Mitarbeiterin an der Lesesaalaufsicht zu erfahren, dass ich die Zettel in dreifacher Ausfertigung abzugeben hätte. Also das ganze Spiel noch einmal! Aber ich erhielt von ihr einen wunderbaren Rat: „Wenden Sie sich doch zunächst an eine unserer Referentinnen mit Ihrem Thema. Die Kollegin wird Ihnen weiterhelfen!“ 

Natürlich ist der erste Schritt ins Archiv heute im Zeitalter des Internets viel bequemer; man ruft zu Hause am PC die Website des Archivs auf, dort finden sich Hinweise auf die Bestände und zumeist Angaben, wie man seine Bestellung schickt und sich für einen Besuch anmeldet. Auf manchen Websites werden sogar kleine Tutorien oder Einführungsveranstaltungen angeboten. Wahrscheinlich sind Archivare froh, wenn die Website eine Menge Fragen von unvorbereiteten und unkundigen Benutzern beantwortet. Doch ersetzt dies alles nicht das Gespräch mit einer Archivarin oder Archivar. Ich will ja nicht die Website durcharbeiten, um ein Experte für das Archiv zu werden und auf der Einführungsveranstaltung zu erfahren, wie groß die Kartensammlung ist – so stolz jedes Archiv darauf auch sein kann. Sondern ich habe eine spezifische Frage zur Vergangenheit und ich hoffe, dass ich im Archiv Material finde, das mir bei der Antwort auf diese Frage hilft.

Selbstverständlich lernt man als Benutzer auch im persönlichen Gespräch mit der freundlichen Archivarin rasch, dass sie keine Zauberfee ist, die kurz auf der Tastatur tippt, und schwuppdiwupp ist eine Liste mit allen in Frage kommenden Aktensignaturen ausgedruckt. Und während man zurück in den Lesesaal schlendert, wird schon das Wägelchen hereingeschoben, auf dem die Akten fein gestapelt liegen. Das ist die erste und vielleicht wichtigste Lektion: Die Ordnung der Wissenschaft ist nicht die Ordnung des Archivs!

Selbstverständlich ist eine Volltextrecherche in der Datenbank eine große Hilfe – dennoch kann auch die beste Suchsoftware nur die Begriffe finden, die verzeichnet sind. „Hungerjahre Hamburg“ als Stichworte eingegeben, werden vermutlich nur wenige Aktensignaturen zu Tage fördern. Sprich: An den Regesten und Aktentiteln, die Archivare anlegen, kommt niemand vorbei.

Darum ist der persönliche Kontakt zu einer Archivarin oder Archivar nach wie vor unverzichtbar, weil ich in diesem Gespräch etwas über die Struktur des Archivs erfahre und damit über mögliche Fundorte, an denen sich Unterlagen für meine Fragestellung befinden. Gerade in Zeiten, in denen das Internet verspricht, jede Frage lösen zu können, ist die persönliche Beratung wichtig. Nur wer staatliche Verwaltungsstrukturen versteht, wird die Bestandsstruktur eines Staats- und Landesarchivs erfassen können. Vielleicht helfen Organigramme in den Räumen, in denen sich die Findmittel befinden. Aber die Tektonik des Archivs erschließt sich nicht allein über eine Website oder eine Schautafel.

Ohne eine Beratung wäre ich zweifellos mit den Regalen voller Findbücher gänzlich überfordert, selbst wenn es wie stets einen allgemeinen Führer zu den Beständen des jeweiligen Archivs gibt. Diese erste, persönliche Hilfe im Umgang mit den Findmitteln ist eines der entscheidendsten Momente, ob ein Benutzer im Archiv fündig wird oder nicht.

Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Tag im Hamburger Staatsarchiv – zu einer Zeit, in der es noch keine Datenbank gab, mit der ich eine Volltextrecherche hätte durchführen können – und ich recht ratlos in den Findbüchern blätterte. Und doch liegt genau dort der Gewinn des Archivs. Denn so hilfreich die Datenbank mit ihrer Volltextrecherche ist, so viele Signaturen mir der Computer auch ausspuckt und ich danach wohlgemut meine erste Bestellung aufgeben kann – so besitzt diese Suche eben genau die Mängel, die jede Internetrecherche hat: Man sucht nur danach, was man schon kennt. Ich kann ja nur die Begriffe eingeben, von denen ich annehme, dass sie mein Thema umreißen, ebenso wie ich bei Google nur die mir bekannten Stichworte eingeben kann zu einem Gegenstand, über den ich informiert werden möchte. Die Suche entspricht daher vor allem meinem eigenen, gegenwärtigen Horizont. Forschung jedoch ist prospektiv, soll neue Horizonte erschließen, neue Zusammenhänge stiften, neue Fragen aufwerfen.

Sicher erlaubt es unsere imaginative Intelligenz, auch Fragen zu stellen, die mit dem herkömmlichen Wissen brechen. Aber nicht jeder neue Zusammenhang lässt sich planen! Daher brauche ich, um forschen zu können, die unerwarteten Informationen, jene, die ich noch nicht antizipiert habe, für die ich eben noch nicht über einen Suchbegriff verfüge.

Darin liegt bekanntermaßen der große Gewinn einer Zeitungslektüre gegenüber der Google-Recherche. Mit Google bewegt man sich stets im eigenen Horizont des Wissens und gelangt nicht darüber hinaus, während man mit einem Blick auf eine Zeitungsseite vieles erfahren kann, eben auch viel wirklich Neues, das vorher nicht gewusst wurde und nach dem man eben auch nicht hätte suchen können. Deshalb sind Findbücher nach wie vor trotz aller Datenbanken wertvoll, weil sie mit der Verwaltungsstruktur Zusammenhänge zwischen innerbehördlichen Referaten, anderen staatlichen Instanzen oder gar außerstaatlichen Institutionen aufzeigen, an die in der anfänglichen Entwicklung der Forschungsfrage nicht gedacht werden konnte.

In meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit zum Beispiel war das Findbuch NS 19 Persönlicher Stab Reichsführer SS im Bundesarchiv eine wahre Fundgrube. Niemand, der ernsthaft zur SS forschen möchte, wird ohne dieses Findbuch auskommen können, nicht nur wegen des exzellenten Registers, sondern eben auch weil mit diesem Findbuch die Organisation, Kompetenzverteilung und Arbeitsteilung, die thematischen Felder und nicht zuletzt die persönlichen Beziehungen in der SS-Führung kenntlich werden. In diesen beiden Bänden des Findbuchs NS 19 habe ich sicherlich etliche Stunden geblättert – mit großem Gewinn für meine Arbeit.

Kein Archivar sollte sich daher von Kultur- und Wissenschaftspolitikern oder den Experten der IT-Abteilung einreden lassen, dass die digitalisierte Recherche Findmittel überflüssig machen würde und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs besser in der Service-Content-Abteilung eingesetzt werden sollten. Gute Forschung braucht innovative Köpfe, braucht Eigenarbeit, Beharrlichkeit und Kreativität. Kein Archivar kann meine Forschungsfrage lösen – das ist genuin meine Aufgabe als Wissenschaftler. Daher hilft mir das digitale Service-Zentrum weiter, aber auch die künftigen Forscherinnen und Forscher werden nicht umhin kommen, sich neben der Datenbank-Recherche die Zeit zu nehmen und die mit archivalischer Fachkompetenz angelegten Findbücher zu studieren.

Entdeckungen

Dann kommt der erste Karton mit Akten. Sicherlich treffen sich Archivare und Historiker in der Liebe zu diesem Material. Meine französische Kollegin Arlette Farge hat vor vielen Jahren einmal ein wunderbares Buch über den „Geschmack des Archivs“ geschrieben. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, in dem ich zum ersten Mal diesen besonderen Knoten der Verschnürung meines Aktenkonvoluts geöffnet habe – ein wenig mit der Angst, ob ich bei der Abgabe der Akten diesen Knoten wohl wieder würde knüpfen können – und ganz behutsam die ersten Stücke braunen, groben Papiers entnommen habe: Vermerke, Aktennotizen, Beschlussvorlagen, handschriftliche Zettel, Zeitungsausschnitte, Briefe mit den dazugehörigen, leeren Briefumschläge – allesamt Zeugnisse von historischen Akteuren, die längst nicht mehr leben und die gewissermaßen aus dem Dunkel der Vergangenheit jetzt wieder ins Licht treten.

Es war für mich als Historiker des Nationalsozialismus und des Holocaust ein denkwürdiger Moment, als ich zum ersten Mal den handschriftlichen Vermerk Heinrich Himmlers auf einem Beförderungsvorschlag für einen SS-Sturmbannführer sah. „Osteinsatz?“ stand da mit grünem Stift. Ich muss gestehen, dass ich damals erst einmal eine Pause gemacht habe, um zu begreifen, dass hier ein Beleg vor mir lag, dass für Himmler die Teilnahme am Massenmord die notwendige Voraussetzung für eine Beförderung zum Obersturmbannführer gewesen war.

Akten sind keine toten Dinge. Ihre Materialität, die unmittelbare sinnliche Erfahrung ihres Herkommens aus einer längst verflossenen Welt regen die Imagination an. Die eingetrocknete, schwer leserliche Tintenschrift; das brüchige Papier; die Fadenheftung; die charakteristischen Eigenarten einer vielbenutzten Schreibmaschine, die bestimmte Buchstaben stets ein wenig tiefer setzt; die kontroverse Debatte, die aus den handschriftlichen Vermerken auf einer Beschlussvorlage zu erkennen ist; das Foto, von dem man nicht mehr weiß, wie es in diese Überlieferung gelangt ist, bis hin zu dem SA-Schlagring, der sich als Beweisstück in den Unterlagen eines Gerichtsverfahrens aus den frühen 1930er Jahren im Landesarchiv Berlin findet – diese Materialität der Überlieferungen ist Teil des Archivs und macht für mich als Historiker mit die Attraktivität des Archivs aus. In dieser unmittelbaren Konfrontation mit der Überlieferung aus vergangenen, weit entschwundenen Zeiten, deren Zeugnisse ich nun in die Hand nehmen kann, sind mir, das will ich gern gestehen, mitunter die besten Ideen für meine wissenschaftlichen Studien entstanden.

Darum ist die allerorten vorgenommene Digitalisierung der Archivbestände für mich als Historiker eine ambivalente Angelegenheit. Selbstverständlich profitiere ich als Forscher von der großen Menge an Dokumenten, die mittlerweile online zur Verfügung gestellt werden. Die Digitalisierung macht eine ungeheure Fülle an Dokumenten zugänglich, die man noch vor wenigen Jahren für kaum möglich gehalten hat. Dafür, dass Archive diese Herkules-Aufgabe auf sich nehmen, können wir uns als Forscher nur bedanken. Denn wer, wenn nicht die Archive sollte es sein, die die immense Sammlung an Wissen einer forschenden und interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt! Diese Globalisierung und Demokratisierung von Informationen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, und wir wissen derzeit noch gar nicht, wie sich damit unser Wissen von der Welt verändern wird. Die Möglichkeit – vorausgesetzt ich beherrsche die jeweilige Sprache –, in den Archiven der Welt zu forschen, ohne aufwendige Reisen unternehmen zu müssen, ist atemberaubend. Wer das Vorwort von Fernand Braudel zu seiner großen Geschichte des Mittelmeers kennt, weiß, wie mühselig er die verschiedene Archive der Mittelmeerländer erkunden musste, welche unglaubliche, zum Teil abenteuerliche Recherche nötig war, um dieses Meisterwerk zustande zu bringen. Die Diskrepanz zu den ungemein erweiterten Online-Recherchemöglichkeiten heute springt ins Auge. Welche Quellen hätte Braudel heute ohne größere Probleme einbeziehen können!

Aber wäre ein anderes Buch dadurch herausgekommen? Hätte die größere Menge an verfügbaren Informationen sein Buch besser gemacht? Nicht Big Data, nicht die schiere Quantität von Informationen zeichnet das wissenschaftliche Meisterwerk aus, sondern die Fragestellung, die kreative Idee, das Quellenmaterial unter einer innovativen Perspektive neu zu ordnen und damit einem historischen Gegenstand ein neues Licht, eine neue Erkenntnis abzugewinnen.

Und natürlich – um wieder an Arlette Farge zu erinnern – gehört der Weg der Recherche zur Erkenntnisgewinnung dazu! Braudels mühselige Archivreisen, seine Begegnungen mit Archivaren, mit Menschen vor Ort, seine Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Kulturen, seine Erlebnisse in den verschiedenen Ländern – all das ist untrennbar mit seinem Mittelmeer-Buch verbunden! Es ist sicher keine allzu kühne Behauptung, dass dieses Buch allein am heimischen Computer nicht zustande gekommen wäre!

Wir würden den Charakter historischen Wissens verkennen, wenn wir es allein als Informationsgewinnung mittels der Auswertung von Texten definieren würden. Die Materialität der Quellen ist ebenso unverzichtbar wie der Weg, die Quellen aufzufinden. Die Vorstellung heutzutage, dass anscheinend jede gewünschte Information auf Knopfdruck verfügbar sei, blendet gänzlich aus, dass Wissen keine Sammlung von Informationen ist, sondern die intellektuelle Herstellung von Zusammenhängen.

Wikipedia mag – wie jede gute Enzyklopädie – hilfreich sein, um einen ersten Überblick zu bekommen oder rasch Daten zu Personen und Ereignissen zu recherchieren, aber in der Erforschung komplexen Geschehens wie der Julikrise 1914, der Sturz des Inka-Reiches oder der nationalsozialistischen Machteroberung kann eine Enzyklopädie bestenfalls verschiedene Interpretationen, differente Deutungen nennen, ohne das Geschehen damit wirklich ergründen zu können. Von neuen Fragestellungen ganz zu schweigen.

Selbstverständlich ist Wikipedia wie jede gute gedruckte Enzyklopädie ein ungemein nützliches Instrument. Aber die Enzyklopädie als Reservoir für Wissen zu betrachten, verwechselt die Ebenen. Wissen heißt Urteilen, heißt relevante von irrelevanten Informationen zu trennen und die Fülle von Informationen auf die wesentlichen zu konzentrieren, nämlich diejenigen, die für jeweilige Fragestellung relevant sind. Geschichtswissenschaftliche Arbeiten leiden heute keineswegs an einem Mangel an Informationen; im Gegenteil, ihr wesentlichstes Manko besteht darin, dass die Autorinnen und Autoren immer weniger in der Lage sind, die verfügbaren Informationen zu evaluieren.

Datenkompetenz

Eben diese Kompetenz wird aber nicht dadurch erlernt, dass immer mehr Daten ins Netz geschaufelt werden. Die bewundernswerte, umfangreiche Sammlung von ganz unterschiedlichen Dokumenten entbindet mich keineswegs von der wissenschaftlichen Aufgabe, Informationen zu gewichten. Ein Mehr an Daten fördert diese Kompetenz keineswegs, sondern erhöht vor allem den Aufwand und die Schwierigkeit des Aussortierens. Denn nur wer als Forscher gelernt hat, die eigene Suche kritisch zu begleiten, die Umwege zu schätzen und den Mainstream zu meiden, wer gelernt hat, Informationen zu bewerten, zu sortieren und auch wieder zu vergessen, wird mit der Datenfülle im Internet umgehen können.

Ich bin kein Kulturpessimist, erst recht kein Gegner der Digitalisierung. Aber ich widerspreche vehement der Auffassung, dass die Digitalisierung von Archivgut allein einen Wissensfortschritt erbringen würde. Sie und ich kennen die Politikerstimmen, die allen Ernstes glauben, Lagerprobleme in Bibliotheken und Archive durch Digitalisierung der Bestände zu lösen, weil dann die Originale ja entsorgt werden könnten und etliche Regalkilometer frei würden, oder die Digitalisierung als endlich erreichten, gleichen Zugang zum gesellschaftlichen Wissen für alle feiern. Wäre es nicht eine Horrorvorstellung, wenn jemand auf den Gedanken käme, dass die Facharbeit der Kassation doch im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr nötig sei, sondern alles Archivgut ausnahmslos digitalisiert und auf großen Servern den Nutzern zur Verfügung gestellt wird, die dann selbst entscheiden sollen, was sie brauchen oder nicht? Gerade das Zeitalter der Digitalisierung braucht Archivarinnen und Archive, die in der Lage sind, Überlieferungen zu sichten, zu bewerten und Informationsstrukturen herzustellen. Was dringend nötig ist, sind Informationsexperten, die Ordnungen schaffen, Systematiken entwerfen, der amorphen Sammlung von Informationen ein Profil geben.

Selbstverständlich muss die Ordnung des Archivs nicht die meine sein! Meine wissenschaftliche Kunst besteht darin, Daten neu zu ordnen. Aber deshalb bin ich auf die Systematiken, die Strukturen, die Tektoniken des Archivs angewiesen, weil sie mir einen Anhalt bieten, um meine Alternativen davon absetzend kritisch zu entwerfen, und zugleich ein Vorbild darstellen, wie Informationsordnungen, Datenstrukturen gegliedert werden können. Archive sollten sich heute als Informationsportale verstehen, die, im Wortsinn, Zugang zu gesellschaftlichen Überlieferungen öffnen, Portale, hinter deren Tore sich kein unendlicher, amorpher Datenozean erstreckt, sondern ein Informationshaus mit Kammern, Räumen ganz unterschiedlicher Zwecksetzungen, Sälen, Dachböden, Kellergewölben, Treppen, Fahrstühle, Fenster, Türen, mit Anbauten und Abrisskanten – aber eben doch ein Haus, ein vertrauter Ort für seine Besucher, die, wenn sie das Konstruktion des Hauses begriffen haben, unschwer lernen, sich selbständig darin zu bewegen, Entdeckungen zu machen und neue Räume zu entwerfen. Mitunter reicht es ja, einmal ein Fenster zu öffnen.

Vielleicht werden sich die Internet-Nutzerinnen und -Nutzer bald endgültig teilen in die große Masse der User, die den Internet-Monopolen wie Google oder Facebook glauben und sich in eine Abhängigkeit begeben, deren Dimension wir heute, befürchte ich, noch gar nicht überblicken können. Die überbordenden Gerüchte in den sozialen Netzwerken, die geglaubt werden und zu massenhaftem, realem Handeln führen, geben einen ersten Eindruck davon. Und in eine kleine Gruppe von Producern von Informationen, die die Suchmaschinen mit Material beliefern. Archivare wie Historiker sind gefordert, seriöse, valide Informationen, begründetes Wissen im Internet zur Verfügung zu stellen. Wer, wenn nicht wir, kann dies mit öffentlicher Verantwortung, nicht gewinnorientiertem Berufsethos tun?

Der Aufbau von solchen Informationsportalen ist sicherlich keine Aufgabe, die man Archiven allein aufbürden kann. Aber Datenportale wie das Landesgeschichtliche Informationssystem LABIS in Hessen, Hamburg-Wissen digital oder LEO (Landeskunde Entdecken Online) in Baden-Württemberg zeigen, dass ein Joint Venture verschiedener landeskundlicher Institutionen möglich und ausgesprochen produktiv ist. Solche Portale sind, denke ich, ein sehr vielversprechender Weg, wie landeskundliches und landesgeschichtliches Wissen seriös im Internet angeboten werden kann.

Als Hochschullehrer brauche ich valide Quelleneditionen im Internet. Man kann es beklagen und muss es dennoch zur Kenntnis nehmen, dass Studierende heute nicht mehr analog in Bibliotheken recherchieren, sondern online. Quelleneditionen, die allein als Buch zur Verfügung stehen, sind ehrenwert und wertvoll, aber werden bald unbeachtet in ihrem Regal verstauben. Deshalb liefert die Münchener Staats- und Universitätsbibliothek seit etlichen Jahren mit ihrem Internetprojekt „1000 deutsche Dokumente“ ein nachahmenswertes Vorbild, wie im Internetzeitalter Quellen online präsentiert werden können: Dort wird das Dokument, das übrigens kein schriftliches sein muss, sondern auch ein Bild, ja ein Ding sein kann, im Original abgebildet, und, falls nötig, sorgfältig transkribiert. Hinzu kommen ein kurzer einführender wissenschaftlicher Text und eine Liste mit weiterführender Literatur. Ein wirklich vorbildliches Projekt, das bereits beim Deutschen Historischen Institut in Washington und beim Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg Nachahmer gefunden hat. Und auch die Historische Kommission zu Berlin e. V. hat begonnen, Schlüsselquellen zur Berlin-Brandenburgisch-Preußischen Geschichte auf diese Weise zu präsentieren.

Eine solche Quellensammlung im Netz hat für mich als Hochschullehrer den großen Vorteil, auf seriös erschlossene Quellen verweisen zu können, die in wissenschaftlichen Arbeiten zu verwenden sind – im Unterschied zu den zahllosen Textsammlungen im Netz, deren editorische Sorgfalt oder korrekte Transkription nur im Vergleich mit dem Original – also nur durch einen Besuch im Archiv – zu überprüfen sind, damit als Zitat- und Belegstelle keinen wissenschaftlichen Wert haben. Nur durch das Zertifikat der beteiligten wissenschaftlichen Institutionen erhält eine solche Quellenpräsentation ihre Seriosität und kann, wenn solche Sammlungen sukzessive wachsen und miteinander verlinkt werden, zu einem äußerst spannenden, interessanten und hilfreichen Werkzeug nicht nur in der Hand von Historikern werden.

Aber auch schon vorhandene Quelleneditionen ließen sich in Verbindung mit den Archiven für das Internet produktiv machen. So ist die große und von der DFG mit Millionen finanziell geförderte Quellenedition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 als reine Buchausgabe geplant worden. Was hätte diese grundlegende und von der editorischen Praxis herausragende Edition für ein europa-, ja fast weltumspannendes Projekt werden können, wenn man neben der Druckausgabe ein Internetprojekt mit den jeweils beteiligten Archiven in West- wie Osteuropa geplant hätte, also die Präsentation der jeweiligen Dokumente im Faksimile samt editorischer Erschließung auf den Websites der beteiligten Archive wie in einem zentralen Editionsportal?

Solche Online-Editionen stellen eine hervorragende Kooperationsmöglichkeit zwischen Archivaren, Historikern und IT-Fachleuten dar, um gemeinsam an einer neuen digitalen Wissensstruktur für die Gesellschaft arbeiten. Das Faksimile, die Abbildung des Originals erinnert nicht zuletzt daran, dass kein Dokument einfach in Text überführt werden kann, ohne dass damit wichtige Informationen verloren gehen. Nicht die Transkription ist die Quelle, sondern stets das originale Dokument. Historiker wie Archivare sollten heute wagemutiger die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation nutzen, ohne ihr affirmativ anheim zu fallen und die eigenen, nach wie vor besonderen und unverzichtbaren Arbeitsmöglichkeiten, nämlich mit den tatsächlichen Originalen umzugehen, hintan zu stellen. Die digitale Kommunikation als neue Kulturtechnik ersetzt keine analoge Kompetenz, sondern erweitert unsere Möglichkeiten und verändert das Verhältnis von Kompetenzen untereinander, so wie die Erfindung des Buchdrucks eine grundlegend neue Welt der Kommunikation eröffnet hat, ohne dass damit Oralität oder Visualität marginalisiert worden wäre.

Gesellschaftliche Überlieferung

Zu diesem Wagemut gehört für mich auch, dass die Landes- und Staatsarchive sich von ihrer strikten Fixierung auf staatliche Überlieferung lösen. Ich weiß, dass ich damit ein kontrovers debattiertes und auch praktiziertes Thema anspreche. Einige Landesarchive sammeln private Nachlässe, andere nur von hochrangigen staatlichen Entscheidungsträgern. Hier gilt es meines Erachtens, den Horizont zu öffnen. Die Geschichtswissenschaft hat sich schon längst von ihrer Fixierung auf die Staats- und Kabinettsgeschichte gelöst und betreibt seit Jahrzehnten Gesellschaftsgeschichte, die je nach Ansatz mehr von der Soziologie oder von der Ökonomie oder den Kulturwissenschaften inspiriert ist. Alltagsgeschichte, in den 1980er Jahren noch von den Großmeistern der historischen Zunft als „grünlich schimmernde Seifenblase“ abgetan, ist heute selbstverständlicher Teil des Curriculums.

Mit den Forschungsfragen verändert sich auch die Suche nach den Quellen. Tagebücher, Briefsammlungen und andere Selbstzeugnisse bilden heute für Historikerinnen und Historiker wichtige Quellen. Fotosammlungen sind für all diejenigen, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen, unverzichtbar, denn als „Jahrhundert der Bilder“ kann es nur untersucht werden, wenn man auch visuelle Quellen hinzuzieht. Was für Mittelalterforscher selbstverständlich ist, erreicht nun auch die Zeithistoriker – und damit auch die Archive.

Es braucht einer gemeinsamen Anstrengung von Archivaren und Historikern, um beispielsweise die Sendeanstalten der ARD und das ZDF endlich dazu zu bewegen, das immense und immens wichtige Bildarchiv, über das sie verfügen, der Öffentlichkeit und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Wie soll man eine Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Radio und Fernsehen schreiben? Dazu brauchen wir runde Tische, an denen nicht nur Juristen mit Expertise zum Urheberrecht, sondern auch Historiker und Archivare sitzen, um realistische Vorschläge zu erarbeiten, wie mit diesem Archivgut umgegangen werden kann.

Neue kommunikative Wege zu erschließen, Vernetzung zu betreiben, historische Informationen, die an unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten vorhanden sind, miteinander zu verbinden – diese neue Aufgabe erfordert auch neue Strukturen, vielleicht mehr projektbezogene, temporäre. Vielleicht führt sie auch zu mehr Hybridität, wenn zum Beispiel die Rolle von Bibliotheken und Archiven in der Digitalisierung von Wissen nicht mehr so einfach zu trennen ist wie vordem, als die einen die Quellen und die anderen die gedruckten Forschungsergebnisse sammelten. Einer der großen Vordenker einer digitalen Geschichtswissenschaft, der leider viel zu früh verstorbene Peter Haber, hat einmal von den neuen, hybriden Formen analogen wie digitalen Forschens gesprochen. Hier sind wir, Archivare wie Historiker, gefordert, uns gemeinsam Gedanken zu machen, Neues auszuprobieren und Mut für Experimente zu haben.

Denn selbst die Sammlung staatlicher Überlieferung braucht neue Konzepte. Wichtige politische Entscheidungen werden heutzutage per SMS oder E-Mail kommuniziert, und doch kämen Archivare nicht auf den Gedanken, sämtliche SMS und E-Mails zu sammeln, sondern stünden vor der kaum lösbaren Aufgabe der Kassation solcher digitaler Kommunikationsmedien. Werden sich Archive heute nicht vielmehr zum Beispiel auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die in einem breiten Maß Material vielfältiger Provenienz sammeln, konzentrieren müssen? Oder auf Gerichtsverfahren, die staatliches Handeln nachprüfen und damit Quellenmaterial bereitstellen, das in dieser Zusammenstellung nicht aufzufinden wäre?

Die Digitalisierung stellt uns zweifelsohne vor große Herausforderungen, die eben nicht vornehmlich technische als vielmehr kommunikationskonzeptionelle und epistemologische sind. Wissenschaft und Archiv 4.0 aber ist ein Projekt, für das sich zu engagieren lohnt, so dass beide Seiten auf eine ungemein anregende und innovative Weise aufgefordert sind, über ihr eigenes Tun nachzudenken und die Zukunft des Wissens zu gestalten.

Vortrag von Prof. Dr. Michael Wildt zum 19. Brandenburgischen Archivtag in Königs Wusterhausen am 25. April 2016. Veröffentlicht in „Brandenburgische Archive. Berichte und Mitteilungen aus den Archiven des Landes Brandenburg“ 34/2017